Wann ist es Zeit für den Schritt zur professionellen Marke?

Written by
Benjamin Clemens Nuebel
November 22, 2024

Dieser Beitrag wurde ursprünglich bei starting up veröffentlicht.

Bestimmt kennst du den berühmten Ausspruch, dass man nicht nicht kommunizieren kann. Mit Marken verhält es sich ganz ähnlich. Sobald eine Idee zum Produkt bzw. Unternehmen gedeiht, da hat man, nein, da ist man auch schon eine Marke.

Denn jede Marke beginnt mit der Unterscheidbarkeit. Das ist ihr eigentlicher Job. Du kannst problemlos ein Produkt ›erfinden‹, das es so schon gibt. Spätestens die Marke muss dich jedoch am Markt zweifelsfrei abheben.

In der frühen Phase eines Start-ups sind die Elemente Name, Logo, Story oder auch das UI in der Regel improvisiert und weit weg von dem, was wir richtige Markenarbeit nennen. Aber lass Dir von Profis sagen: das ist auch gut so! Behalte aber zwei Tipps im Hinterkopf. Erstens: verkünstle Dich nicht zu sehr mit der improvisierten Brand, d.h. bleib bei Name und Design nahe am Produktversprechen. Und zweitens: verliebe Dich nicht in die DIY-Marke! Denn wenn alles gut geht auf Deiner Unternehmensreise, dann wirst Du irgendwann Profis brauchen. In der Early-Product-Stage gibt es aber Wichtigeres zu tun und einen besseren Einsatz für Deine wichtigsten Ressourcen: Zeit und Geld.

Ab wann lohnt sich ›richtiges‹ Branding?

Während der vergangenen sieben Jahre haben wir als Design­agentur viele große und kleine Start-ups betreut und uns mit unzähligen Gründer:innenteams ausgetauscht. In all diesen Gesprächen taucht früher oder später dieselbe Frage auf: Ab wann genau lohnt sich ein richtiges Branding, bzw. das Beauftragen einer Agentur? Weil wir das sooft gefragt worden sind, haben wir lange darüber nachgedacht, um darauf tatsächlich eine klare Antwort geben zu können. Das Ergebnis dieser Überlegungen ist: der Product-Story-Slot.

Der Product-Story-Slot ist ein Zeitfenster, das sich zu einem genau bestimmbaren Zeitpunkt öffnet — ehe es sich, ebenso vorhersagbar, wieder schließt. Ausschlaggebend sind zwei Dimensionen: Einerseits betrachten wir die Marktreife bzw. ›Viability‹ des Produkts; und andererseits die Deutungshoheit über die bzw. ›Ownership‹ der Story. Der Product-Story-Slot lässt sich ablesen, sobald man diese Dimensionen übereinanderlegt. Die Quintessenz des Modells lautet: bevor sich der Slot öffnet, ergibt ein richtiges Branding keinen Sinn.

Bevor wir den Product-Story-Slot im Detail vorstellen, klären wir einmal kurz, was wir eigentlich unter ›richtigem‹ Branding verstehen. Eine professionelle Marke erkennst du daran, dass sie wie ein Maßanzug (oder ein Handschuh) passt — also zum Produkt, Unternehmen und den Menschen dahinter. Eine richtige Marke ist nicht nur unterscheidbar, sondern hochgradig assoziativ: Außergewöhnliches Design und durchdachte Assets werden von einer starken Story getragen und plausibilisiert.

Ein solcher Branding-Prozess ist kosten- und zeitintensiv. Damit das Ergebnis maßgenau sitzt, muss das zentrale Angebot deines Produkts stabil sein — nur so wird eine starke Profilierung möglich. Und das bringt uns zur ersten Dimension des Product-Story-Slots.

Viability of Product (Marktreife)

Der ›Viability of Product‹ Kreislauf

In diesem Teil des Modells erzählen wir einem Gründer:innenpublikum zunächst nichts Neues. Agile Produktentwicklung beginnt bei der Inception und führt zunächst zu einem Prototyp — also einer Hypothese, die experimentell an der Wirklichkeit des Marktes gemessen wird. Auf Basis von Nutzer:inneninterviews, Research und Testing sowie der gesamten Resonanz wird eifrig getüftelt, bis der Proof of Concept erreicht ist. Jetzt steht fest, dass es ein interessiertes Publikum gibt, das bereit ist, das Produkt zu nutzen und (wenigstens perspektivisch) dafür zu bezahlen.

Wenn es dann mit dem MVP (›Minimal Viable Product‹) gelingt, die Erwartungen zu erfüllen, ist gar der Heilige Gral in Reichweite: ein Product-Market-Fit, der zahlende Nutzer:innen zu unbezahlten Botschafter:innen macht, die die Marke von sich aus weiterempfehlen. So weit, so logisch.

Solange noch kein MVP da ist, sollten die angesprochenen Basiselemente — also Name, Logo, Botschaften oder auch UI/UX-Design — nur zweckmäßig sein. Denn bis hierhin wird produktseitig meist noch kräftig improvisiert. In diesem Flux von Iterationen, Mikro-Pivots und Finetuning wäre ein richtiges Branding sogar kontraproduktiv, weil es die Marke auf eine Hypothese festnageln würde, die sich auch als falsch herausstellen kann.

Mit dem Launch des MVP ist es dann aber soweit: Das Zeitfenster für hochwertige Markenarbeit hat sich geöffnet. Denn jetzt steht fest, was die wesentlichen Vorteile des Produkts sind, die schließlich zu den Kernversprechen der Marke übersetzt werden können. Das richtige Branding unterstützt bei Scale-up und Rollout — und sollte übrigens auch dabei helfen, einen endgültigen Product-Market-Fit zu erreichen. Spricht eigentlich etwas dagegen, die Markenarbeit erst später anzukurbeln, also nach dem Product-Market-Fit? Die Antwort lautet: ja — und dazu kommen wir jetzt.

Ownership of Story (Deutungshoheit)

Der ›Ownership of Story‹ Kreislauf

Die vielleicht größte Überraschung versteckt sich im zweiten Teil unseres Modells. Hier betrachten wir die Deutungshoheit über die Brand Story im zeitlichen Verlauf. Zu Beginn ›gehört‹ die Story selbstverständlich den Gründer:innen. Hier wird das Narrativ entwickelt, das die ersten Mitarbeiter:innen, die ersten Kund:innen sowie das erste Kapital anlocken soll.

Mit den anfänglichen Wachstumsschritten verlagert sich diese Ownership dann auf das Team. Von User:innen-Interviews  über Social Media Beiträge bis zum Onboarding neuer Mitglieder und Partner:innen: Das Team erzählt die Geschichte nun weiter und hilft dabei, sie an die Bedürfnisse des Markts anzupassen.

Sobald aber das Scaling einsetzt, passiert etwas Erstaunliches — denn die Ownership der Brand Story liegt jetzt nicht mehr im Unternehmen selbst. Von nun an sind es die Nutzer:innen und das Publikum, die die Marken-Story fortschreiben: durch Reviews und Referrals, durch Bewertungen und ›Word of Mouth‹. Natürlich hat das Unternehmen als Absender auf diese Entwicklung Einfluss. Doch ein eigentliches Steuern ist von hier an nur noch unter hohem Einsatz von Zeit und Geld möglich. Der Product-Story-Slot, in dem richtiges Branding den größten Kosten-Nutzen-Wert darstellt, schließt sich, sobald die Deutungshoheit über eine Marke in der Öffentlichkeit liegt.

Das gilt übrigens nicht nur für Start-ups: Canada Goose und Volkswagen etwa mussten jeweils Unsummen aufbringen, um alternative Erzählungen (Tierquäler bzw. Lügner) einzufangen und ihren eigentlichen Stories wieder Gehör zu verschaffen.

Der Product-Story-Slot

Die Kreisläufe von ›Viability of Product‹ und ›Ownership of Story‹ überschneiden sich im ›Product-Story-Slot‹

Zum Heureka kommt es, wenn wir diese beiden Zeitdimensionen — also ›Viability of Product‹ und ›Ownership of Story‹ — übereinanderlegen. Die Faustregeln des Product-Story-­Slots können wir hier auf einen Blick erkennen.

Das Zeitfenster für ein richtiges Branding öffnet sich, sobald der MVP gelauncht ist und der Fokus von Iteration auf Rollout und Scale-up übergeht. Zu diesem Zeitpunkt liegt die Story Ownership beim (in der Regel noch kleinen) Team. Der Buy-in und das Einschwören auf die ›neue‹ Brand — mitsamt der richtigen Story — ist genau hier am effektivsten. Setzt dann der Hyper Growth ein, wandert die Story Ownership in die freie Wildbahn. Und das ist der Moment, in dem sich der Product-Story-Slot schließt.

Natürlich ist richtige Markenarbeit auch nach diesem Zeitpunkt noch möglich. Wer feststellt, dass die Marken-Story nicht so weitererzählt wird wie erhofft, wird ohnehin tätig werden müssen. So effektiv wie während des Product-Story-Slots ist Branding indes nie wieder.

Dass die Zeitachsen ohne Werte sind, ist übrigens kein Zufall. Je nach Idee, Markt und Gründungsvoraussetzungen sind hier alle Zeitspannen denkbar. Wenn das geplante Produkt in einem anderen Land oder Marktsegment bereits validiert worden ist, kann alles sehr schnell gehen. Handelt es sich dagegen um einen völlig neuen Ansatz, dann verlängert sich der Prozess — oft um ein Vielfaches. Die gute Nachricht lautet: In einem verlängerten Prozess wächst auch der Product-Story-Slot proportional mit.

Fake it till you make it

Fassen wir zusammen: eine festgelegte Brand — Story + visuelle Identität —  ergibt erst mit dem Launch des MVP Sinn. Denn nur wenn die Problemlösung des Produkts genau feststeht, lässt sich das formulierte Markenversprechen mit den richtigen Assoziationen aufladen.

Bis dahin sollten Gründerinnen und Gründer auch in der Markenarbeit auf Bootstrapping zurückgreifen. Das Produkt und die Features stehen dabei klar im Vordergrund; Name, Story und Design sollten den Funktionen folgen und sich eng am Produktversprechen orientieren. Für UI und UX gibt es bekanntlich unzählige Templates, auf die man aufsatteln kann. Weniger bekannt ist, dass sich auch die vorläufige Story bootstrappen lässt. Websites wie ManifestoWriting.com und Modelle wie die Heldenreise helfen dabei, den eigenen Antrieb und das Produktversprechen in einem prototypischen Narrativ zu vereinen. 

Zum Schluss sollten wir noch einem Missverständnis vorbeugen. Wenn wir jungen  Gründerteams empfehlen, den Fokus nicht zu früh aufs richtige Branding zu legen, dann bestimmt nicht, weil wir sie loswerden wollen. Vielmehr gilt: Außergewöhnliches kann nur gelingen, wenn das, was wir branden sollen, auch wirklich weit genug ist. Der Product-Story-Slot ist unsere selbstgebaute Heuristik, um diesen richtigen Zeitpunkt gemeinsam bestimmen zu können..