Dieser Artikel wurde ursprünglich auf dem Sortlist Blog veröffentlicht.
Im Musikantenstadel des Marketings gibt es ein paar Evergreens: auswendig gelernte Gassenhauer, die wieder und wieder in den Präsentationen der Beratungen und Agenturen auftauchen. Diese Evergreens kommen gerne als buntes Schaubild daher – und eignen sich hervorragend für halbwissende Fremdwort-Festivals.
Die Sinus-Milieus sind so ein Beispiel, das partout nicht tot zu kriegen ist. Doch Sinus hat wenigstens einen seriösen Unterbau – also eine ausdefinierte Theorie und saubere Methodik (auch wenn diese Art der Zielgruppenforschung durchs Digitale längst überholt ist).
Die eigentliche Luftnummer im Dampfplauderer-Repertoire sind zweifellos die »12 Archetypen des Marketings«. Wofür sie stehen, woher sie kommen und warum sie problematisch sind – darauf möchte ich in diesem Beitrag eingehen. Und um nicht miesepeterig zu sein, will ich zuletzt Anregungen geben, wie man das Modell bewusst und dosiert einsetzen kann.
12 Archetypen des Marketings:
Der Legende nach wurden die »12 Archetypen« vom schweizerischen Psychiater und Psychoanalytiker Carl Gustav Jung entwickelt (um nicht zu sagen: entdeckt). Sie sollen zwölf charakterliche Urbilder beschreiben, die wir Menschen unbewusst mit den immergleichen Emotionen und Verhaltensweisen assoziieren.
Und wie es sich für eine unterkomplexe Methode gehört, gibt es dazu ein wunderbar symmetrisches Schaubild:
Einfacher ausgedrückt: Der Archetyp ist ein Rollenbild, das unsere Geschichte strukturiert und unser kulturelles Wissen entsprechend informiert habt. Und weil sogar Märchen ihrem Duktus folgen, sind die Archetypen schon für Kinder einleuchtend und verständlich.
Die Liste der 12 Archetypen sieht gemeinhin wie folgt aus:
Der Rebell in drei Worten:
Hauptsache anders! Das ist das Motto des Rebells. Seine Mission ist es aufzumischen und sich gegen etablierte Normen und Konventionen zu stellen. Nicht selten wird dabei auch mal jemand vor den Kopf gestoßen.
Der Zauberer in drei Worten:
Der Zauberer will transformieren und liebt die Veränderung. Er ist ein wandelbarer Visionär und Idealist.
Der Held in 3 Worten:
Der Held strebt nach Macht und Ehre. Er ist kämpferischer Natur und strotzt vor Widerstandskraft.
Der Liebende in 3 Worten:
Der Liebende ist ein leidenschaftlicher Enthusiast, ein echter Romantiker. Er ist sinnlich und verführerisch, aber auch sensibel und emotional.
Der Narr in drei Worten:
Dem Narr geht es vor allem um Eines: Spaß! Er versteht es zu unterhalten und hat einen ausgeprägten Sinn für Humor. Auf manche mag er dabei etwas kindisch wirken.
Der Jedermann in drei Worten:
Der Jedermann ist zurückhaltend und bescheiden. Er ist sozial verträglich und kommt mit jedem gut aus. Sein Harmoniebedürfnis kann jedoch dazu führen, dass er sich selbst manchmal zu sehr zurückstellt.
Der Betreuer in drei Worten:
Der Betreuer hat etwas mütterliches. Er ist selbstlos und aufopferungsvoll und kümmert sich mehr um Andere als um sich selbst. Er möchte andere schützen und Sicherheit bieten.
Der Herscher in drei Worten:
Der Herrscher versteht sich als klassischer Führer. Er gibt den Ton an und zeigt den zu beschreitenden Weg.
Der Schöpfer in drei Worten:
Der Schöpfer setzt vor allem auf Innovation. Seine Ideen fallen manchmal sehr gewagt aus und er ist bereit, Risiken einzugehen. Oft macht sich dies bezahlt, doch manchmal bringt es ihn auch zum straucheln.
Der Unschuldige in drei Worten:
Der Unschuldige sieht in allem das Gute. Er ist aufrichtig und optimistisch, zuweilen aber vielleicht auch etwas naiv.
Der Weise in drei Worten:
Der Weise ist wissbegierig und intelligent. Er teilt sein Wissen gerne mit anderen, ist aber auch selbst bestrebt, stetig dazu zu lernen.
Der Entdecker in drei Worten:
Der Entdecker ist sehr abenteuerlustig. Er geht gerne auf Reisen und steht Neuem stets aufgeschlossen gegenüber.
Im Gegensatz zu Stereotypen, die von außen nach innen wirken – sodass die Zuschreibungen des Betrachters ein Bild ergeben – wirkt der Archetyp von innen nach außen: als unumstößliche Konstante des menschlichen Storytellings. So lautet jedenfalls die Geschichte.
Der vermeintliche Clou besteht nun darin, die Persönlichkeit der eigenen Marke innerhalb eines Archetyps zu verorten. Daraus nämlich ließen sich die Tonalität und Haltung für die eigene Markenkommunikation erschließen.
Und damit man auch bestimmt nichts falsch macht, werden für jeden Archetyp die immergleichen Beispiele heruntergebetet. Apple ist der Schöpfer, Chanel ist die Liebende, Nike ist der Held, Harley Davidson ist der Rebell, Disney ist der Zauberer, The North Face der Entdecker, etc.
Diese Beispiele suggerieren die Relevanz und Stichhaltigkeit der zwölf Archetypen. Sieh her, sagen sie, sogar die größten Marken der Welt lassen sich wunderbar darin einordnen! Sie müssen es nur genauso machen – und fertig ist Ihr Brand Marketing.
Welchem Trugschluss die Archetyp-Apostel aufliegen, lässt sich wunderbar anhand der Marken beschreiben, die dort immer wieder referenziert werden. Es beginnt mit der Tatsache, dass vermutlich keine dieser Marken sich über den passenden Archetypen Gedanken gemacht hat und die Archetyp-Zuschreibung also nachträglich stattfindet.
Und es endet mit der Einsicht, dass diese Zuschreibungen zwangsläufig Momentaufnahmen sind, die die Entwicklungen von Markenpersönlichkeiten nicht berücksichtigen können. So war etwa Apple ursprünglich mehr Rebell als Schöpfer – und könnte übrigens problemlos auch als Entdecker oder Zauberer bezeichnet werden.
Aber die Probleme beginnen schon beim Ursprung des Modells. Denn die zwölf Archetypen basieren weder auf Forschung noch auf irgendeiner Realität. Sie sind ein Mythos, von Marketern erdacht und so lange weitererzählt, bis sie auf diese Weise zu einem unhinterfragten Standard gediehen.
Arglos eingesetzt, behindern der übergestülpte Archetyp eine konstruktive Markenarbeit und ersetzen sie durch quasi-esoterisches Geschwurbel. Aber der Reihe nach.
Bereits die Gründungslegende der zwölf Archetypen ist, mit Verlaub, Humbug. Carl Gustav Jung ist fraglos ein toller Poster-Boy: Immerhin war er der Kollege von keinem Geringeren als Sigmund Freud und popularisierte die Psychoanalyse in den Vereinigten Staaten.
Und tatsächlich schreibt er über Archetypen als »ursprüngliche Bilder«, die er auf der Kreuzung von Mythologie und Traumdeutung verortet. (Nachzulesen in: Carl Gustav Jung, Der Mensch und seine Symbole. Patmos Verlag 2012)
Doch dabei handelt es sich mitnichten um die zwölf Charaktere aus dem Marketing-Musikantenstadel. Jung beschreibt lediglich vier Archetypen, nämlich ›Anima/Animus‹, ›das Selbst‹, ›der Schatten‹ und ›die Persona‹ .
Viel Glück dabei, Ihre Marke darin wiederzufinden!
Wir wissen nicht, wer diese vier Reiter der Apokalypse umgeformt hat zu den zwölf werbetauglichen Klischees, die wir heute kennen. Dass es ausgerechnet ein Dutzend geworden ist, das ist jedenfalls bezeichnend. Denn der einzige ›Forschungszweig‹, an den die zwölf Archetypen erinnern, ist die Astrologie mit ihren zwölf Sternzeichen.
Jeder von uns kennt sein Sternzeichen; viele Menschen sogar ihren Aszendent. Auch für die Skeptiker und Agnostiker hat das eigene Horoskop einen fast unwiderstehlichen Reiz. Wie der Science-Fiction Autor Arthur C. Clarke so schön gesagt haben soll:
»Ich glaube nicht an Astrologie. Schützen wie ich sind skeptischer Natur.«
Astrologie – also das Identifizieren und Ablesen irdischer Eigenschaften anhand der Sonnenlaufbahn durch die »Tierkreiszeichen« – scheint in vielerlei Hinsicht das natürliche Vorbild für die zwölf Archetypen zu sein: Angefangen bei der vollkommenen Zahl des Dutzends, die uns auch bei den Aposteln oder König Artus‘ Tafelrunde begegnet.
Über die Vagheit und Elastizität der Zuschreibungen (für beinahe jede Eigenschaft lassen sich mehrere Entsprechungen finden). Bis hin zu den genau ausbaldowerten Kombinationsmöglichkeiten: sei es, welche Sternzeichen vermeintlich zueinander passen oder eben, wie ein Unternehmen aufgrund seines Archetyps rekrutieren sollte.
Was Horoskope seit Jahrhunderten erfolgreich macht, ist ihr sinnstiftendes Element, das uns die komplizierte Welt begreiflich machen will. Fairerweise ›glauben‹ die Wenigsten mit Leib und Seele an das, was Sterndeuter ihnen täglich servieren.
Für die meisten Menschen ist ihr Horoskop eher eine Meditiation, Motivation oder schlichtweg Unterhaltung, die nicht mehr ›beim Wort‹ genommen wird als das gemeinschaftliche Bleigießen an Silvester.
Und deshalb genug des Spielverderbens. Ja, die zwölf Archetypen sind eine unwissenschaftliche, populäre Erfindung, die stark an Horoskope erinnern. Nichtsdestoweniger haben sie sich über die Jahrzehnte durchgesetzt. Ja, als Modell sind sie vage und unterkomplex – doch wie heißt es so schön?
Alle Modelle sind falsch; aber manche sind sinnvoll.
Dieser schöne Aphorismus geht auf den Statistiker George Box zurück, der ihn so erstmals in einem 1976 veröffentlichten Paper gebrauchte.
Können die zwölf Archetypen also auch sinnvoll sein? Gibt es Anwendungsfälle, für die sie sich eignen?
Eine plausible Verwendung des Modells könnte darin liegen, existierende Selbstbilder einer Marke zu hinterfragen. Denn die haben oft mehr mit der Branche als mit der Marke selbst zu tun.
Ein Unternehmen im medizinischen Bereich sieht sich da schnell als »Betreuer« oder »Weiser«; ein Start-up wird sich bereitwillig als »Rebell« oder »Entdecker« identifizieren. Ironischerweise können die Archetypen dabei helfen, diese Selbst-Bilder zu erkennen und zu durchbrechen, um neue Perspektiven und Erzählungen zuzulassen.
Ein anderer konstruktiver Einsatz der zwölf Archetypen liegt im Überblick und in der Inspiration. Trotz all seiner Fehler gibt das Modell auf einen Blick viele Arten der Selbstbeschreibung und der Ansprache zu sehen. Man möchte sich vorstellen, wie der Saft-Hersteller innocent, derart inspiriert, noch an Ort und Stelle beschloss, die ganze Marke rund um den Archetyp des Unschuldigen zu bauen – mit einigem Erfolg.
Doch selbst dann wäre innocent höchstens die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Denn wenn einfache Modelle wie die zwölf Archetypen (oder auch die LimbicMap) die ganze Markenarbeit schultern müssen, wird es problematisch. Wer einem Unternehmen zur eigenen Stimme und zum eigenen Stil verhelfen will, muss zuallererst zuhören und die richtigen Fragen stellen. Ein übergestülpter Archetyp ersetzt diese Arbeit nicht – sondern erschwert sie.